Francis Alÿs, Le temps du sommeil
Vereinigung bildender KünstlerInnen – Wiener Secession
18. November 2016 – 22. Januar 2017
In der Mitte des Hauptraums der Wiener Secession hängt eine Schnur von der Decke. Eine konsistente Knüpftechnik verdichtet die fragile Linie in regelmäßigen Abständen zu einer festen Struktur. Bewegungen wie „I turn back“ oder „I jump“ werden – wie drei gerahmte Zeichnungen erklären – als geknüpfte Zeichen linear angeordnet und verräumlicht. Die Schnur funktioniert hier als mnemotechnisches Instrument, das einen Spaziergang des Künstlers Francis Alÿs materialisiert. Vor dem geistigen Auge zeichnet sich ein imaginärer Pfad, ein in Spaziergang durch eine Stadlandschaft, ab.
Rundumlaufend, an einer etwa brusthohen horizontalen Linie ausgerichtet, sind 111 bemalte Holztafeln im Postkartenformat angebracht. Der Künstler begann 1996 mit der Werkserie Le temps du sommeil (Die Zeit des Schlafes), die er seitdem fortwährend überarbeitet. Einige der ziegelroten Tafeln zeigen grüne Inseln, auf denen Figuren platziert sind und Handlungen, die das Spazieren oder das Gemeinschaftliche zum Thema haben. Die kleinen Gemälde wechseln sich mit Aphorismen, die direkt auf die weißen Wände gedruckt sind, ab. Dabei beschreiben die Sätze nicht die angrenzenden Malereien, sondern deuten über sie hinaus, indem sie auf vergangene, aktuelle und zukünftige Projekte des Künstlers Bezug nehmen.
Im Obergeschoß der Secession werden zwei Videoarbeiten, die als Dokumentation von Alÿs’ Performances zu verstehen sind, gezeigt: In Paradox of Praxis 1 (1997) schleift der Künstler einen Eisblock durch die Straßen von Mexico City, bis dieser zu einem Hagelkorn zusammengeschmolzen ist. Das Schmelzwasser zeichnet Alÿs’ Marsch durch die Straßen nach und verschiebt die Dauer seiner Schritte, bis auch die letzte Spur verschwindet.In Paradox of Praxis 5 (2013) sieht man den Künstler, wie er einen Feuerball vor sich her kickt. Der Ball erleuchtet die Nacht der Ciudad de Juárez, einem Grenzort, der durch seine kulturellen und geopolitischen Divergenzen geprägt ist.
Auf den ersten Blick scheint das Medium Malerei für einen Künstler, der einer situationistischen Dérive-Praxis verschrieben ist, unpassend, wenn nicht widersprüchlich zu dessen performativen Stadterkundungen. Jedoch zeigen die palimpsestartigen Tafeln von Le temps du sommeil temporäre Spuren auf einer Oberfläche, wie auch Alÿs’ Spaziergänge eine Art der Markierung im Stadtraum sind. Michel De Certeau beschreibt in seinem Buch Kunst des Handelns (1980) das aufmerksame Gehen in der Stadt als urbane Praxis, der als ephemere Einschreibung in den Raum eine subversive Kraft innewohnt. Im experimentellen Abweichen vom Weg und im Erkunden von Orten, die vielmehr ‚Nicht-Orte’ als Realraum sind, liegt die politische Schlagkraft von Alÿs’ Spaziergängen.
Während die Performances des Künstlers die vertikalen, hegemonialen Strategien offenlegen, die den Handlungsraum der BenutzerInnen von öffentlichen Räumen regulieren, verflacht diese kritische Haltung in seinen Malereien. Die Tafeln gerinnen zu kostbaren Objekten, denen die subversive Geste nur mehr zeichenhaft zukommt; sie selbst erzeugen die Faszination eines ent-zeitlichten, mikrokosmischen Raums von Miniaturmalereien. Auch wenn die Zeit des Schlafes auf alternative Zeitökonomien, auf das Unproduktive und das Imaginäre verweisen, der gegenwärtigen ‚verkauften Gegenwart’ begegnen sie mit einem romantisierenden Impuls, der vielmehr Rückzug als Vorstoß ist. Die Kleinteiligkeit der singulären Narrative von Le temps du sommeil verlangen Heranzutreten. In ihrer rezeptiven Intimität bilden die Tafeln ein imaginäres Gegenstück zur rauen Schnelligkeit der Großstadt, die sie zugunsten einer Vorstellungswelt im Stile eines allzu modernistischen Flâneurs ausblenden.